Vom Greben zum Bürgermeister
Bis ins 19. Jahrhundert war
der Grebe die wichtigste Person im Dorf. Er wurde in Heiligenrode bis etwa 1350
von den Vögten des Klosters Kaufungen ernannt, danach von den Räten des Landgrafen.
Das Grebenamt war ein Ehrenamt, welches heute als Vorläufer des Bürgermeisteramtes
gesehen werden kann. Denn der Grebe war eine Mischung aus Bürgermeister,
Ortsrichter und Ortsvorsteher. Voraussetzungen waren ein gutes Ansehen in der
Gesellschaft (Leumund) und die Fähigkeit, lesen, schreiben und rechnen zu
können. Der Grebe verpflichtete
sich durch Eid zu Gehorsam gegenüber dem Landgrafen und dessen Bediensteten, dass er keine Gelder
unterschlägt und für Ordnung in seiner Gemeinde sorgt. Zu seinen Hauptaufgaben
gehörte das Führen von vielerlei Listen, Statistiken und Registern: über die
Einwohner, über den Viehbestand, über die Menge des im Wald geschlagenen
Holzes, über die Hand- und Spanndienste der Bewohner bei herrschaftlichen
Jagden, bei Straßen- und Festungsbau sowie die Eintreibung der
Branntweinsteuer, von der er selbst, wie von fast allen anderen Abgaben,
befreit war. Jährlich erhielt der Grebe, der während der französischen
Besatzung Maire genannt wurde, 2
Thaler aus der Gemeindekasse für seine Arbeit (wofür man z.B. 5 kg Fleisch und
25 Brote kaufen konnte).
Nicht nur der Name, auch der Verwaltungssitz war damals noch ein anderer. So diente nicht ein Rathaus, sondern das private Wohnzimmer des Greben als Dienstzimmer. Versammlungen wurden unter der Dorflinde auf dem Kirchhof abgehalten. Zweimal im Jahr kamen die Räte des Landgrafen zum Gerichtstag nach Heiligenrode. Der Grebe war für deren standesgemäße Bewirtung zuständig. Auch war er verpflichtet, monatlich zwei Mal mit den Leinenweberinnen und Leinenwebern das gesponnene Garn zu besichtigen, andernfalls durfte es nicht verkauft werden.
1834 wurde in Kurhessen die kommunale Selbstverwaltung eingeführt und damit eine grundlegende Reform geschaffen. Zu den wahlberechtigten Einwohnern zählten alle Männer zwischen 25 und 70 Jahren, die nicht vorbestraft oder verschuldet waren oder „in Kost und Lohn eines anderen standen“, wie Gesellen und Tagelöhner. Die Wahlberechtigten wählten auf fünf Jahre zwölf Mitglieder in den Gemeindeausschuss. Dieser wählte den Bürgermeister und zwei weitere Personen als Gemeinderäte, die an der Seite des Bürgermeisters standen. Die erste Direktwahl eines Bürgermeisters durch die Bürgerinnen und Bürger unserer Gemeinde wurde am 11. September 1994 durchgeführt.
Schriftprobe des Grebenanwärters und späterem Greben Christoff Dethoff aus 1746.
@Gemeinde Niestetal
Das Bürgermeisteramt
Das erste Heiligenröder Rathaus verdankt die Gemeinde der Schenkung eines ehemaligen Bürgers, des Auswanderers Friedrich Bernhard, der als junger Mann 1885 in die USA auswanderte. Allein in den dokumentierten Jahren 1824 bis 1866 verließen 74 Einwohnerinnen und Einwohner Heiligenrode, um in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Sie und viele andere suchten über die Jahrzehnte hinweg das Abenteuer und verließen ihr kleines Dorf, um sich im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ niederzulassen. Friedrich Bernhard wurde in den USA wohlhabend und schickte 1922 aus Dankbarkeit einen größeren Geldbetrag an seine Heimatgemeinde. Das Geld sollte zur Milderung der Armut im Dorf verwendet werden. Die Gemeindeväter beschlossen daraufhin, ein großes Gemeindehaus an der Kasseler Straße 26 zu bauen. Hier entstand das erste und einzige Bürgermeisteramt Heiligenrodes, dass knapp 50 Jahre lang bis 1972 diesem Zweck diente. Somit war der letzte Bürgermeister ohne Rathaus Bürgermeister Dethof, dessen großer Hof damals an der Kasseler Straße/Ecke Heinrich-Heine-Straße lag.
In dem neu errichteten Rathaus gab es außerdem einige
Sozialwohnungen für Bedürftige. Vermutlich wurde nicht der gesamte Betrag für
den Bau verwendet, denn in dem Protokollbuch des Handwerkerverbandes aus dem
Jahre 1927 steht: „Die Zinsen der Bernhard-Stiftung von 600 Mark werden an die
Ärmsten der Gemeinde verteilt.“ Man kann daraus schließen, dass der Rest der
Geldspende auf einem Sparbuch lag und Zinsen brachte, die wiederum regelmäßig
an die sozialschwachen Bürgerinnen und Bürger ausgezahlt wurden. Ein
Gedenkstein mit Inschrift steht noch heute in unmittelbarer Nähe des alten
Rathauses und der Infotafel 7.
@Gemeinde Niestetal @Familie Gundlach
DEM STIFTER DIESES HAUSES, HERRN
FRIEDRICH BERNHARD
AUS GRANTWOOD-BERGEN,
BERGEN COUNTY,
STATES OF NEW JERSEY,
U. S. A.,
DIE DANKBARE GEMEINDE HEILIGENRODE
Diktatur und Demokratie
Politische Aktivitäten in Heiligenrode beginnen laut Protokollbuch im Jahre 1893 mit der Gründung des „Bürgervereins“. Der setzte sich das Ziel, Einfluss auf die Entwicklung des Dorfes zu nehmen. Der Bürgerverein zog mit 3 Vertretern in die Gemeindevertretung ein. Die Mitglieder und Funktionäre erkannten aber bald, dass eine noch konsequentere Einflussnahme auf kommunale Entscheidungen erst im Rahmen einer parteipolitischen Betätigung möglich war. Deshalb ging 1908 der Bürgerverein in den „politischen Wahlverein“ über, der die Interessen des sozialdemokratischen Partei vertrat. Damit war der SPD-Ortsverein Heiligenrode geboren.
Das alte Bürgermeisteramt von Heiligenrode in der Kasseler Straße 26. Hier noch mit dem kleinen Uhrentürmchen. Dahinter die alte Schule. Die Aufnahme stammt etwa aus 1935. @Gemeinde Niestetal
In der Schicksalswahl von 1932 stimmten in Heiligenrode 895 Wahlberechtigte gegen Hitler als neuen Kanzler. Die NSDAP erreichte lediglich 260 Stimmen. Trotzdem gab es bald überall einen eigenen, kleinen "Führer". Seine Unterstützer halfen dabei, die gesamte Gesellschaft der Ortschaften nach den Ideen des Nationalsozialismus umzuformen. Andere Meinungen wurden unterdrückt und zum Schweigen gebracht. In der letzten "freien" und geheimen Reichstagswahl vor 1949, am 5. März 1933, waren die Parteien des linken Spektrums bereits stark eingeschränkt und viele Kandidatinnen und Kandidaten wurden von der SA/SS inhaftiert. Trotzdem stemmte sich Heiligenrode mit 833 von 1168 Stimmen gegen die aufstrebende Diktatur der Nationalsozialisten. Ab dann wurden andere Denkweisen mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. Die Presse-, Meinungs- und zum Großteil auch die Religionsfreiheit wurde von den Nationalsozialisten abgeschafft. Die demokratisch gestaltete Weimarer Verfassung wurde abgesetzt, die Demokratie beendet. Bereits am 26.04.1933 wurden Bürgermeister Pfannkuch, eine Reihe von Gewerkschaftlern und linke Politikerinnen und Politiker von der SS verhört und krankenhausreif geprügelt. Der Bürgermeister wurde schließlich inhaftiert und in die Konzentrationslager Breitenau und Sachsenhausen gebracht. Er überlebte den Krieg und wurde im April 1945 wieder als Interims-Bürgermeister eingesetzt. Mit den aus Weimarer Zeiten inspirierten Gesetzten, wurde am 23. Mai 1949 das demokratische Grundgesetzt der Bundesrepublik Deutschland geboren.
Bürgermeister WIlhelm Pfannkuch wurde 1933 von den Nationalsozialisten seines Amtes enthoben und in Konzentrationslagern inhaftiert. In 1945 wurde er von den Allierten als Interims-Bürgermeister wieder eingesetzt.
@Gemeinde Niestetal
1958 wurde das Rathaus renoviert und mit Zentralheizung versehen. Statt bisher vier hatte die Gemeindeverwaltung nun unter Bürgermeister Heinrich Körlemann sechs Räume sowie das Standesamt, das gleichzeitig auch Sitzungssaal war. 1980 wurde das neue Niestetaler Verwaltungszentrum, zwischen den beiden Ortsteilen Heiligenrode und Sandershausen, bezogen und 2010 um weitere Anbauten und Räumlichkeiten erweitert.
Hier die Titelseite des Heiligenröder Mitteilungsblattes vom 1.08.1972. Die Mitteilung beschäftigt sich mit dem Zusammenschluss der beiden Gemeinden Heiligenrode und Sandershausen zur "Großgemeinde" Niestetal.
@Gemeinde Niestetal
Historische Greben und Bürgermeister
(nachweislich bekannte) Greben in Heiligenrode
Grebe Jünemann, ca. 1478 – 1483
Grebe Meinfürl, um 1539
Grebe Meibert, um 1588
Conrad Meibert, um 1640
Just Althans, 1645 – 1675
Ludwig Althans, 1675 – 1685
Georg Althans, ca. 1688 – 1706
Jakob Mergard, ca. 1703 – 1708
Konrad Siebert, ca. 1719 – 1721
Johannes Mergard, ca. 1726 – 1747
Jakob Georg Pfannkuch, in 1738
Christoff Dethof, ca. 1750 – 1759
Johannes Mergard, um 1759
Johannes Ludwig Göbel, ca. 1764 – 1777
Johannes Christoph Dethof, ca. 1791 – 1799
Johannes Otto, um 1812
Grebe Brückmann, ca. 1815 – 1821
Andreas Dethof, ca. 1821 – 1826
Nikolaus Oppermann, ca. 1826 – 1832
(nachweislich bekannte) Bürgermeister in Heiligenrode
Conrad Semmler, ca. 1837 – 1840
Sebastian Semmler, um 1844
Johannes Hartmann, ca. 1847 – 1872
Johannes Umbach, ca. 1878 – 1885
Johannes Wilhelm Umbach, um 1901
Heinrich Dethof, 1904 – 1919
Wilhelm Pfannkuch, 1919 – 1933
Nikolaus Gundlach, 1933 – 1945
Wilhelm Pfannkuch, ab April 1945
Heinrich Müller, 1945 -1946
Konrad Ullrich, 1946 – 1955
Heinrich Körlemann, 1956 – 1960
Georg Linge, 1960 – 1972
"Klingelschorsche" der letzte Ortsdiener Georg Hartung
In jedem Dorf gab es einen Gemeindediener. Dieser hatte die wichtige Aufgabe, amtliche Beschlüsse oder Gesetze der Obrigkeit regelmäßig öffentlich den Bewohnern des Dorfes mitzuteilen. Dazu zählten auch Beschlüsse des Gemeindevorstandes. An verschiedenen Plätzen und Straßen in Heiligenrode verkündete er mit lauter kräftiger Stimme die amtlichen Nachrichten. Zuvor läutete "Schorsche" (ein Kosename für Georg) mit einer Handglocke anhaltend über den Platz. Danach schallte sein Ruf: Bekanntmachung! Daraufhin kamen die Anwohner aus den Häusern, Werkstätten oder Hausgärten, um die Neuigkeiten zu erfahren. Nicht selten blieben sie noch eine Weile beisammenstehen, um über das soeben Gehörte zu diskutieren.
N'Anekdötchen
Laut einer Erzählung kam der Schultheiß (ein Grebe/Bürgermeister) von Heiligenrode eines Nachts betrunken aus einer Gastwirtschaft im alten Kassel. Er schaffte es bis zur Fuldabrücke in der Unterneustadt, legte sich dort zum Schlafen nieder und erbrach sich zudem ganz fürchterlich. Kurz darauf zog ein großer Jagdhund vorbei und leckte dem betrunkenen Mann das Gesicht ab. Dieser erinnerte sich wieder an seinen versäumten Barbier-Termin und rief dem Hund zu, dass er ihn bitte ganz sanft rasieren solle, er wär doch der Schultheiß aus Heilgenrode.
Die alte Fuldabrücke um 1890. Die Brücke und die angrenzenden Häuser fielen dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer und sind zum Großteil nicht mehr erhalten. Diese Fotografie fängt das alte Kassel an der Fulda sehr schön ein.
@Library of Congress U.S.A.